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Der 7. November 1938: Verzweifelt über die Deportation seiner in Hannover lebenden Eltern ermordet der 17-jährige Herschel Grynszpan den deutschen Botschaftssekretär in Paris. In der Folge überzieht eine nie dagewesene Welle von antisemitischer Gewalt und wüsten Ausschreitungen ganz Deutschland.
Es ist diese Geschichte der Reichskristallnacht, die der britische Komponist Michael Tippett in seinem Oratorium „A child of our time“ verarbeitet. Tippett beginnt die Arbeit an dem Werk, als ihn die Nachricht über den Kriegsbeginn 1939 erreicht. Für dieses Werk hat er keinen Auftraggeber und keinen Verleger, eine Aufführung ist nicht in Aussicht. Tippett schreibt sein Oratorium aus dem Bedürfnis, den Unterdrückten eine Stimme zu geben, schreibt es als Mahnung zu Toleranz, Humanität und Gerechtigkeit. „A child of our time“ erzählt von der Verantwortung des Einzelnen und der Rolle der Gesellschaft, von Grausamkeit und Unterdrückung, von der Macht einer Menschenmasse, von den dunklen und hellen Seiten in uns.
“I would know my shadow and my light, so shall I at last be whole,”
Kreiskantor KMD Gerd Weimar führt Tippett’s Oratorium dieses Jahr mit dem Projektchor der Stiftung Kirchenmusik und dem Oratorienchor Arnsberg sowie dem Philharmonischen Orchester Hagen auf. Dabei werden in Kooperation mit dem TEATRON THEATER Arnsberg erstmalig Theaterszenen in das Oratorium eingefügt – entwickelt und inszeniert mit einem kleinen Schauspielensemble unter der Leitung von Yehuda und Ursula Almagor. Die gemeinsame Aufführung von Oratorium und Theaterszenen setzt ein neues, starkes Zeichen für ein friedliches Zusammenleben.
Mehr über das Stück:
Tippett gliedert das Oratorium in drei Teile, dabei ist Part I eine „allgemeine Beschreibung der Unterdrückung in der gegenwärtigen Zeit“, wie Tippett es selbst formuliert. Part II erzählt „die Geschichte eines jungen Mannes, der Gerechtigkeit mit Gewalt zu erzeugen versucht und den katastrophalen Folgen. Part III enthält „die Moral, wenn es denn eine gibt.“ Der dreiteilige Aufbau ist die deutlichste, aber nicht die einzige Anspielung auf Handels „Messias“.
Tippett orientiert sich in der Ausgestaltung an den großen Chorwerken von Händel und Bach, die eine Verknüpfung von erzählenden Rezitativen, kontemplativen Arien und beschreibenden Chören sind. Die Tonsprache jedoch ist geprägt von der englischen Chortradition, in der sich Tippett als Zeitgenosse von Benjamin Britten und William Walton bewegt.
Tippett schließt ein weiteres Element ein, dass sich nur bei Bach findet: die Verwendung bekannter Choräle. Tippett suchte nach einer zeitgemäßen Analogie zu den vielgesungenen Kirchenliedern, die Bach in seine Passionen einbaute. Er fand sie – im Radio: Fünf afro-amerikanischen Spirituals („Steal away“, „Nobody knows“, „Go down, Moses“, „By and by“ und „Deep River“) bilden die fünf Säulen, die das Stück tragen. Die Spirituals boten Tippett einerseits den gewünschten Wiedererkennungswert, gleichzeitig waren sie in der Lage, die Thematik des gesamten Werks vom Leiden der jüdischen Bevölkerung hin zu einer universellen Beschreibung von Unterdrückung und Ausbeutung zu heben.
„A child of our time“ gehört in Deutschland nicht zum Kanon der gängigen Chorwerke. Ein Grund dafür sind sicherlich die sängerischen Anforderungen, die sich aus der expressionistischen Tonsprache ergeben. Die Spirituals werden jedoch gerne einzeln aufgeführt und sind häufiger in a-cappella-Programmen zu hören.